Willingen: eine beschauliche Kleinstadt im nordöstlichen Teil des Rothaargebirges im nordhessischen Teil des Sauerlandes im Grenzbereich zu Nordrhein-Westfalen. Für uns Mountainbiker ein Mekka, wo seit nunmehr über 2 Jahrzehnten Ende Mai eines jeden Jahres tausende und abertausende Bike-Verrückte für ein verlängertes Wochenende pilgerartig einfallen.

1998 fand das erste Bike Festival in Willingen statt. Ganz nach dem Vorbild des Bike Festivals am Gardasee, der Grandmother aller Bike Festivals, sollte nun auch in Deutschland die Mountainbike Community ein solches Spektakel bekommen. Einen Ort, wo man unter seinesgleichen der Normalität des Extremen frönen kann, ohne von den Unwissenden schief angesehen zu werden. Als junger Mountainbiker, welcher sich nach Jahren sportlicher Abstinenz kurz zuvor dazu entschlossen hatte, wieder etwas mehr Fahrrad zu fahren, musste ich natürlich dabei sein.

Natürlich hatte ich als Kind Fahrräder, doch sportlich habe ich diese niemals genutzt. Es war ein notwendiges Fortbewegungsmittel, um im zersiedelten Umfeld ohne öffentlichen Nahverkehr von A nach B zu gelangen. Spätestens mit Beginn meiner Karriere als Alltagsrennfahrer nach erfolgreichem Erwerb des Führerscheins war es dann Essig mit der Fortbewegung auf dem Fahrrad. Das eigene Kfz war das Tor zur Freiheit. Keine Strecke war zu kurz, um nicht mit dem Kfz bewältigt zu werden. Sport? Nein danke.

Erst in den frühen Zwanzigern habe ich mich, degeneriert und fett, unförmig in der Körpermitte und konditionell abgewrackt, wieder besonnen – und die Idee war geboren: Ich lege mir ein Mountainbike zu. Ich hielt das für cool. Auf jeden Fall mit Federgabel.

Bis dahin habe ich genau genommen überhaupt keinen Sport betrieben. So gar nichts. Ich hing vor allem an den Wochenenden dem Verlangen nach, irgendwo möglichst heftig Partys zu feiern oder Discotheken zu besuchen. Manchmal mehrere an einem Abend, was im ländlich geprägten Raum, in welchem ich aufgewachsen bin, notgedrungen zu längeren Transfers führte, um in die hippen Discos der umliegenden Städte zu gelangen. Mein Lieblingsgetränk? Osbourne/Cola. Jedenfalls wenn ich nicht fahren musste. Ein Großteil meines Ausbildungsgehaltes wurde also für „Sprit“ für mich und mein Auto (damals war ich überzeugter Golf I GTI-Fahrer, der brauchte seinerzeit Super Plus und war somit der teuerste Sprit an der Tanke) und Eintrittsgelder investiert. Auch damals gab es übrigens eigens generierte Feindbilder. Opel Manta waren der natürliche Widersacher des GTI Fahrers im Straßenverkehr. Aber das ist eine andere Geschichte. Oftmals war die sonntägliche Mountainbike-Runde durch Kater und Kopfschmerz weniger lustvoll, als es das sportliche Hobby an sich eigentlich ist.

Aber zurück zum Festival.

In Willingen findet ein Bike-Festival statt!? Da müssen wir hin! Damals wusste ich noch nicht, wofür Willingen überhaupt steht. Ich wusste nichts vom Sauerlandstern, von Siggis Hütte, vom Doppeldecker, vom Brauhaus, vom Wilddieb und alldem, was dort Wochenende für Wochenende durch Kegelklubs, Junggesellenabschiede, Fußballvereine und und und so abgeht.

Warum wusste ich davon nichts? Man könnte jetzt meinen, bei meiner obigen Vita sollte ich gewusst haben wo der Punk abgeht. Dazu sei gesagt, dass Willingen deutlich außerhalb meines damaligen Partyradius´ lag. Weit hinterm Horizont. Erst später habe ich – frei nach Udo Lindenberg – gelernt, dass es da noch weiter geht.

Also auf zum Bike Festival in Willingen, um Mountainbike zu fahren.

Zu dritt im Wohnmobil vom Vater eines Kumpels. Wir, das waren Carsten, Tommo (einigen vielleicht bekannt als Hauptprotagonist aus der TV-Trashserie „Die Superheimwerker“ auf VOX und Kabeleins) und ich ließen mal so gar nichts anbrennen bei den abendlichen Partys – und Mountainbiken geriet recht schnell zur Nebensache. Die Party fand damals noch im Eisstadion statt. Es nannte sich Pasta/Potatoe-Party. Musik wurde auch abgespielt und es gab Bier, viel Bier! Das führte sehr schnell dazu, dass auf den Tischen getanzt wurde und andere damals zeitgeschichtlich nicht unübliche Dinge passierten, auf welche ich an dieser Stelle aus Jugendschutzgründen aber nicht näher eingehen kann.

Einen Marathon gab es damals noch nicht, wohl aber ein Cross Country Rennen. Tommo nahm teil. Start/Ziel auf einer Wiese am Eisstadion, einmal den Berg rauf, am Dinosaueriergehege vorbei und wieder runter. 5 Runden, fertig. Tommo auch.

Zwischenzeitlich wurde auf der vorgenannten Wiese eine Fourcross-Strecke gebaut. Fourcross ist eine spektakuläre Spielart des Mountainbikens, ähnlich dem BMX. Vier Biker parallel nebeneinander Vollgas bergab über allerlei Sprünge, Doubles, Tables und Anliegerkurven. Toll anzusehen, aber leider aus dem olympischen Programm gestrichen und somit dem Untergang geweiht.

Natürlich wurden auch geführte Touren angeboten. Ein einfaches Konzept. Eine Tafel mit Startzeit und Tourendaten. Ein Sammelpunkt, wer anwesend ist fährt mit – fertig. Dafür haben wir uns eingeschrieben. Spaß hat es gemacht.

Ein Messegelände war auch vorhanden und alle namhaften Hersteller vertreten. Es gab reichlich Goodies und Giveaways (damals zu Deutsch Werbegeschenke) und das Bike konnte damals noch komplett geserviced werden. Gabelservice, Dämpferservice, kleinere Reparaturen an der Schaltung inklusive Austausch ganzer Bauteile war kostenfrei möglich und wurde von uns dementsprechend auch genutzt. Heute undenkbar.

Fazit des Wochenendes: Geil, wir kommen nächstes Jahr wieder!

Vielleicht auch, weil wir die Zettel mit den Telefonnummern der willi(n)gen Damen, welche wir kennengelernt hatten, verloren hatten. Handys waren noch nicht erfunden. Die nächsten Jahre kamen, genährt von unseren Sensationsgeschichten vom ersten Mal, gleich etliche weitere Kumpels mit, teils aus Norwegen oder Großbritannien angereist. Die widerrum schleppten ihrerseits weitere Kumpels in den Folgejahren mit und wir feierten und grillten, hörten laute Musik aus den selbst installierten Hifi-Anlagen unserer Autos, bis die Batterien leer waren. Partyboxen mit Bluetooth und Streaming waren noch nicht erfunden. Wir hatte jede Menge Spaß. Manchmal wurde auch Rad gefahren. Die Freeride-Strecke am Ettelsberg hat mehr als eine Verletzung bei uns durch Stürze verursacht. Ob katerbedingt oder durch fahrtechnische Defizite oder beides ist nicht überliefert.

Es waren tolle, wilde Zeiten. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert. Wir haben uns weiterentwickelt, das Bike Festival hat sich weiterentwickelt. Beides betrachte ich als gut. Das Bike Festival hat als Zielgruppe weniger den durstigen partysuchenden Alkoholjünger mit seinen Ausfallerscheinungen im Blick, denn davon gibt es in Willingen sowieso genügend.

Vielmehr zeigt sich vor Ort heutzutage der Asket, die austrainierte, sehnige Menschmaschine, angelockt durch zahlreiche Wettbewerbe im Schatten der Start- und Zielbögen, nur darauf aus, extrovertiert in sportlich optimierten Outfits zu zeigen, was der Trainingsfleiß aus ihm geformt hat. Wortkarg, konzentriert und Partyverweigernd. Dennoch bleibt auch der Spaß nicht auf der Strecke.

2024 findet das 25. Jubiläum des Bike Festivals in Willingen statt.

Die Expo-Area befindet sich nun auf dem Parkplatz vor der Ettelsbergbahn. Alles ist größer, bunter und professioneller. Was verändert wurde? Der Eintritt ist heutzutage frei. Zahlreiche Side-Events wie Deutsche Meisterschaft im Downhill, Gravel-Rides, Marathon auf drei unterschiedlichen Strecken, Enduro-Rennen, Fahrtechnik-Trainings usw. finden statt. Mehr Hersteller denn je bieten Ihre Produkte zum Anschauen an. Die Zuschauerzahlen sind von anfänglich 15.000 in 1998 auf über 35.000 angestiegen. Nebenbei besuchen weiterhin zahlreiche Partygäste von Sportvereinen, Kegelklubs und Junggesellenabschiede Willingen an den Wochenenden, sodass regelmäßig Ausnahmezustand herrscht.

Coffee & Chainrings sind 2024 auch dabei – Der Marathonstart sowie das vereinsinterne Erlebnis locken uns dorthin.

Über die Jahre habe auch ich meine Einstellung im Allgemeinen und speziell zum Mountainbiken mehrfach überdacht und angepasst. Die Partyexzesse von damals sind passé. Der sportliche Ehrgeiz, gepaart mit der Lust, am Start eines Marathons zu stehen und den Laktatschmerz in den Muskeln zu spüren, gar zu genießen, ist ungleich größer als der, wie früher nach einer Party verkatert mit dröhnendem Schädel aufs Bike zu steigen.

Die mittlere Runde soll es dieses Jahr für mich werden. Kurz genug, um nicht völlig im Laktat abzusaufen und hinterher gequält mit Fieberansätzen und vor Krämpfen zuckenden Oberschenkelmuskeln im Auto nach Hause zu fahren, aber von ausreichender Länge, seine körperlichen Grenzen stets vor Augen geführt zu bekommen, im Schmerz der Qual zu leiden und sich dabei trotzdem gut zu fühlen und Spaß zu haben.

Vereinsinterne „Feindbilder“ sind bereits generiert und das Geheimtraining ohne öffentliche Dokumentationen in digitalen Medien läuft auf Hochtouren. Markige Sprüche über die derzeitige Spitzenform werden zielgerichtet und wohl dosiert gegenüber den Vereinskameraden gesetzt, um Verunsicherung bei der Konkurrenz zu schüren.

Seit ein paar Jahren habe ich den Marathon in Willingen wirklich liebgewonnen. Anfangs tat ich mich schwer, dort teilzunehmen. Die Annahme, es würde sich um einen der üblichen Sauerlandmarathons handeln, welche mit Trails geizen und ausschließlich über breite Schotterpisten führen, hielt mich von der Teilnahme ab. Inzwischen habe ich mehrfach die kurze Runde absolviert und mein Herz an die mittlere Runde verloren. Ich bin sogar zu Trainingszwecken schon in Willingen gewesen. Verrückt.

Äußerst abwechslungsreich mit schönen Trails auf und ab zeigen sich die Marathonstrecken in Willingen. Viel schöner als man im Vorfeld meinen würde. Die Starterfelder sind sowohl qualitativ als auch quantitativ gut besetzt und man kann auch die große Runde bedenkenlos absolvieren, ohne Gefahr zu laufen, nach Stunden ins bereits abgebaute Ziel zu kommen, wie es bei einigen kleineren Marathons auf den Langstrecken schon passiert ist. In Willingen hat man Respekt vor der Leistung der Teilnehmer und harrt aus, bis der Letzte angekommen ist. Herausstellen möchte ich insbesondere die Zielverpflegung, welche u. a. mit warmer Suppe, Kuchen, Schnittchen und Produkten einer Molkerei sehr umfangreich und lecker ist.

Willingen ist natürlich meistens ein Garant von matschigen Bedingungen, dementsprechend verdreckt sieht man selbst und das Bike hinterher aus. Entsprechend der Größe der Veranstaltung ist aber auch der Bike-Wash dimensioniert. Lange Wartezeiten habe ich bislang dort nicht erlebt. Es steht eine ausreichende Anzahl von Hochdruckreinigern mit guter Wasserversorgung bereit. Auch Duschen sind vorhanden. Obwohl das Wasser hier meistens A….kalt ist.

Ich freue mich auf das anstehende Event im Kreise der Vereinskameraden. Wobei ich dieses Jahr nicht in Gänze ausschließen kann, dass es im Anschluss noch feucht fröhlich werden wird. Ein Rückfall in alte Verhaltensweisen ist nicht ausgeschlossen…

Wir sehen uns in Willingen.

T-Racer

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