In 2022 habe ich mich dazu entschlossen noch einmal, zum 5. Mal am Ötztaler teilzunehmen. Meine erste Teilnahme war 2011 und seitdem treibt es mich alle Jahre wieder mal zum Ötzi. Und stets verfolge ich das Ziel es besser zu machen als das vorherige Mal. Bislang ist das auch immer geglückt. Ich mag den Ötztaler. Nicht weil er der landschaftlich schönste Marathon ist, nein, da gibt es sicherlich, zumindest von dieser Ausprägung betrachtet, schönere Wettbewerbe. Aber der Ötztaler ist eine Legende, und diesen Status erlebt man jedes Mal erneut in voller Bandbreite mit.

Ich kenne kaum eine Veranstaltung welche so professionell organisiert ist, noch dazu in zwei Ländern. Die Unwägbarkeiten am Tag des Ötzis sind so mannigfaltig und kaum abzuschätzen, schon durch die schiere Länge der Strecke, die Höhenmeter, die Aufteilung der Höhenmeter, das Wetter, die eigene Form, das Material, die Verdauung und und und. Der Abenteuerfaktor ist für mich dadurch unglaublich hoch. Nicht weniger entscheidend ist für mich aber auch der späte Termin des Ötzis Ende August. So kann ich meine Trainingsmotivation im Jahr lange aufrecht halten und habe gleichzeitig den ganzen Sommer Zeit mich vorzubereiten. Wie das ab 2023 wird, wo der Termin auf Anfang Juli vorverlegt ist, wird sich zeigen. Immerhin stehen so knapp 6 Wochen weniger Zeit zum Training zur Verfügung.

So, nun haben wir uns eingeschrieben und tatsächlich im Losverfahren wieder 2 Startplätze gewinnen können. Axel und ich. Genial. Auch Ansgar unser Teammate von Coffee & Chainrings steht erstmals an der Startlinie.
Den Sommer über tüchtig trainiert stehen wir nun um 06:00 Uhr in der Dunkelheit im Startblock beim Ötzi.
Kein normaler Ötzi, aber auch nicht so schwer wie 2021, wo ein Murenabgang eine enorme Streckenänderung nach sich gezogen hat.
In 2022 waren es aufgrund diverser Umstände mehrere kleinere Streckenveränderungen, welche dazu führten, dass der Ötzi etwas länger wurde als sonst und auch mehr Höhenmeter zu bewältigen waren als sonst.
Es sollen laut Streckenbriefing etwa 300 Höhenmeter in Summe mehr sein und die ‚Strecke ca. 6,5 Kilometer länger sein.
Noch dazu kommt eine Sektioncontrol auf der Abfahrt vom Brenner Rtg. Sterzing, wo das Geschwindigkeitslimit von maximal 25 km/h einzuhalten ist. Alles Faktoren, welche die Gesamtfahrzeit deutlich verlängern. Wie lange, und ob die Cutoff Zeiten am Brenner und insbesondere am Jaufen noch einzuhalten sind, das war die große Unsicherheit zu Beginn.

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Auf ins Abenteuer

Wir stehen also im Startblock. Es ist dunkel. So langsam schleicht sich das Tageslicht ein. Tausende von Teilnehmern stehen um uns herum. Die einen nervös, die anderen hoch konzentriert und ruhig. Manch einer versucht seiner Anspannung durch flapsige Sprüche Herr zu werden. Es herrschen angenehme Temperaturen und ganz wichtig, es ist trocken. Axel und ich stehen nur da und warten die Zeit ab. Zwei Hubschrauber starten. Montierte Kameras übertragen den ganzen Tag live im Fernsehen. Red Bull ist Sponsor und Medienpartner. Der Moderator versucht die Menge zu La Ola Wellen zu motivieren. Da geht es los.

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Einklicken, losrollen, über die Startmatte fahren und zack ist Axel schon nicht mehr in Sichtweite.
Ich, der langsam Starter muss erstmal Vertrauen gewinnen, mich mit der hohen Geschwindigkeit im Pulk anfreunden. Es geht über 30 KM bergab bis Ötz. Rasant durch Kurven, teils 60, 70 km/h stehen auf dem Tacho. Nur nichts riskieren und stürzen. Für manch einen ist der Ötzi so schneller als erwartet vorbei. Ich halte mich an meine Wattwerte, versuche Windschatten zu finden, aber kein Risiko einzugehen, orientiere mich immer zur Fahrbahnmitte, wo am meisten Platz ist. Es wird eifrig überholt.

Ich fahre dieses Jahr erstmals mit Wattmeter und erhoffe mir dadurch eine bessere Einteilung der Kräfte. In der Vergangenheit bin ich unten am Timmelsjoch immer eingegangen wie eine Primel und ab St. Leonhard war es immer eine fürchterliche Schinderei hoch zum Timmel. Vielleicht, so meine Hoffnung, gelingt es dieses Jahr besser.
Dann wird es flacher. Gleich der erste Fahrbahnteiler wird zwei Fahrern zum Verhängnis. Trotz Absicherung und zigfacher Warnung auf allen möglichen Wegen im Vorfeld und beim Streckenbriefing passieren doch immer wieder Unfälle. Zwei Fahrer liegen da, einer bewegt sich nicht. Die Räder etliche Meter dahinter auf der Straße. Hilfe ist zum Glück schon dort. Ich werde nachdenklich. Schüttele den Gedanken aber schnell beiseite und konzentriere mich wieder auf mein Rennen. Plötzlich sehe ich Ansgar vor mir in der Menge aus bunten Fahrern und überhole ihn mit einem freundlichen Klaps auf den Rücken. Wir wechseln ein paar Worte, wünschen uns Glück und verabschieden uns.

Kühtai, ich komme!

Nach 40 Minuten erreiche ich Ötz und es geht in den Anstieg zum Kühtai. Rechts und links wird angehalten und hektisch Kleidungsstücke ausgezogen. Ich schalte sofort in den leichtesten Gang, krempele meine Armlinge runter und versuche mit so wenig Anstrengung wie möglich in die Steigung zu fahren. Ich will Kräfte sparen. Es ist gar nicht so eng wie sonst. Es läuft gut. Ich höre in mich hinein. Zwickt da etwa schon der Oberschenkel?! Oh, das wäre zu früh. Es geht weiter, immer weiter aufwärts. Ich versuche in den Flow zu kommen. An nichts zu denken, nur Fahren. Es gelingt mir. Ich schalte komplett ab, gebe mich der Steigung hin und spüre nur mich selbst. Alle anderen um mich herum sind mir egal. Es ist still, hier und da kracht eine Kettenschaltung unter der Last der Kette.

Plötzlich piept mich mein Wahoo an. „GEL!“ steht auf der Anzeige. Ich habe erstmals diese Funktion aktiviert und lasse mich alle 30 Minuten daran erinnern, Nahrung aufzunehmen. Ich quetsche mir zwei Gel in den Mund. Die Erste Meldung hatte ich in der Abfahrt nach Ötz bereits weggedrückt, ohne zu essen. Daher jetzt doppelte Ladung. Ich will so spät wie möglich ins Kaloriendefizit kommen. Das Gel wird mit einem großen Schluck Flüssigkeit aus der Trinkflasche runtergespült. Auch hier habe ich stark überdosiertes Iso Getränk mit Kohlenhydraten in den Flaschen, um so auf meine ungefähr 80 Gramm Kohlenhydrate die Stunde zu kommen.

Ich finde zurück in den Flow. So geht es wortlos und gedankenverloren dahin. Immer weiter aufwärts bis zum Flachstück in Ochsengarten. Ich beschleunige soweit es meine Wattwerte zulassen und erinnere mich an das Steilstück was jetzt kommt mit 17 % Steigung. Mit meiner Übersetzung 34/32 kein Problem. Die Staumauer erscheint im Blickfeld und danach geht am Ufer des Stausees entlang. Nur noch zwei Kurven und die lange Gerade und zack, nach 2:14 h bin ich auf dem Kühtai angekommen. Trotz meiner eher zurückhaltenden Fahrweise am Kühtai komme ich in etwa mit der selben Zeit oben an, wie in den Vorjahren. Eigentlich dachte ich, ich sei langsamer unterwegs als sonst, doch scheinbar bin ich gut trainiert. Das motiviert.

Achtsamkeit am Brenner

Es folgt Abfahrt nach Kematen. Ich halte nicht an und verpflege mich autark. In der Oberrohrtasche und hinten in den Trikottaschen habe ich alles dabei, was ich an Energie benötige. Im Rausch der Geschwindigkeit darf ich nicht vergessen, dass in Sellrain die erste Streckenänderung kommt. Dort soll es eine scharfe Kurve geben und dann ca. 180 Höhenmeter aufwärts mit ca. 12 % Steigung gehen. Die Abfahrt ist rasant. Ich fahre teilweise über 80km/h. An mir schießen andere Fahrer vorbei, wo ich das Gefühl habe zu stehen. Wahnsinn. Ich versuche aber nicht mitzuhalten. Fahre mein Tempo, gehe nicht aus der Komfortzone heraus. Der Tag ist noch lang.

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Abfahrt Kühtai, Foto: Sportograf

Die Umleitung ist dann gar nicht so dramatisch. Unten angekommen, in Kematen sammeln sich sehr schnell die Gruppen. Ich habe Glück und erwische eine wirklich schnelle Gruppe. Wir schießen flach bis Innsbruck mit knapp 40 km/h zum Berg Isel mit seiner Ski Sprungschanze. Für mich immer wieder ein tolles Bild, diese zu sehen. Sobald die Steigung beginnt, sortieren sich die Gruppen neu. Es wird langsamer. Plötzlich sehe ich in einer Kurve Axel am Straßenrand stehen. Er erleichtert sich. Wir grüßen uns und ich springe in die sich nach vorne lösende Gruppe. 1:27 h später stehe ich an der Labe am Brenner. Persönliche Bestzeit.

Der Weg dorthin war geprägt von Windschattenspielchen, Tempoverschärfungen, Tempoverschleppungen und allerlei taktischen Spielerein. Das hat Spaß gemacht. Doch glaube ich, dass mich das Ganze doch mehr Körner gekostet haben könnte als geplant und ich mehr Kraft investiert habe, als ich eigentlich wollte. An der Labe drücke ich mir 2 weitere Gel in den Mund und fülle meine Trinkflaschen auf. Ruckzuck sitze ich wieder auf dem Rad und erreiche die bereits erwähnte SectionControl. Es fällt schwer, auf dem abschüssigen Radweg so langsam zu fahren. Es wurde seitens der Rennleitung aber angemahnt, bei Nichteinhaltung werde man rigoros disqualifiziert. Tatsächlich lagen sowohl am Beginn –als auch am Ende Zeitmessmatten, so dass die Durchschnittsgeschwindigkeit leicht nachvollzogen werden kann. Ob eine Notwendigkeit dafür bestand sei dahingestellt. Tatsache ist, dass mehrere scharfe Kanten bei Brückenüberquerungen vorhanden waren, welche sicherlich für Reifenschäden hätten sorgen können, wenn man zu schnell und vor allem Unachtsam drübergefahren wäre.

Schließlich ging es wieder auf die Straße und man konnte auf breiter Fahrbahn ohne Verkehr Vollgas Rtg. Sterzing fahren.
Dort erwartete uns die nächste Umleitung, welche dauerhaft eingerichtet wird für die folgenden Ötztaler Veranstaltungen. Um Sterzing nicht von der Autobahn abzuschneiden wie früher, hat man nun die Strecke verlegt und oberhalb von Sterzing etabliert. So kann der Individualverkehr weiter stattfinden. Für uns Radfahrer bedeutet das nur einen kleinen Umweg und ca. 120 Höhenmeter mehr. Diese allerdings haben es in sich. Recht steil geht es los und oben raus wird es zwar flacher, nur zieht sich die Steigung dadurch sehr lang hin und man kommt nicht richtig in Schwung.
Schließlich geht es dann bergab und wir gelangen hinter Sterzing wieder auf die angestammte Strecke in Rtg. Jaufenpass.
Berg Nummer 3 steht an.

Jaufen geht locker!

145 Kilometer sind absolviert. Ich liege etwas hinter den Zeiten der Vorjahre zurück, was wohl an den Streckenänderungen liegen dürfte, denn ich fühle mich gut und fahre frohen Gemütes in den Jaufenpass. Schnell finde meinen Rhythmus und setzte mir zum Ziel mindestens zweistellige Km/h Werte zu fahren. An den Wattwerten erkenne ich, dass ich bereits etwas schwächer trete als zuvor, aber die Beine fühlen sich noch ganz ok an. Der Jaufen ist ein angenehmer Berg wie ich finde. Die Steigung ist stets gleichmäßig und der Asphalt hat insgesamt eine gute Oberfläche. Es rollt.

Ich fahre dahin und versuche zu genießen. Schaue nicht zurück, sondern orientiere mich immer vorwärts. Was knackt denn da eigentlich so nervig am Hinterrad?! Dann kommt die Labe kurz unterhalb der Passhöhe. Es ist voll. Überall drängen sich Körper um die Getränkehähne. Es wird geschoben, gedrängelt und es herrscht eine angespannte Stimmung wie ich finde. Ich reihe mich an einem der Isospender ein und warte geduldig darauf meine Flaschen zu füllen. Gerade als ich meine Flasche unter den Hahn halten will drängt ein anderer Fahrer mit seiner Flasche dazwischen und schubst meine weg. Ok, was soll es denke ich mir und warte. Dann passiert mir das selbe nochmal. Hm…was soll das?! Ich schaue einmal wirklich böse den anderen Fahrer an, ohne etwas zu sagen und er sieht ein, dass ich wohl erstmal an der Reihe bin. Schnell sind beide Flaschen gefüllt. Noch ein GEL! Und weiter.

Die Technik meldet sich

Bereits vor einigen Kilometern habe ich festgestellt, dass meine Schaltung hinten nicht mehr ganz so sauber schaltet und sich ein nerviges Knacken eingestellt hat, wenn ich in den Wiegetritt gehe. Als ich nachsehe woran es liegen könnte, stelle ich fest, dass die Hinterradnabe starkes seitliches Spiel entwickelt hat. Die Felge lässt sich mehrere Millimeter seitlich hin und her schieben. Dazu ist hat die Kassette auch Spiel. Bereits bei einer der letzten Trainingsfahrten zu Hause habe ich dieses festgestellt und das Lagerspiel neu eingestellt, indem ich die beiden Konen außen an der Nabe wieder festgezogen habe. Beim Start war auch definitiv alles in Ordnung. Was also tun? Lagerschlüssel habe ich nicht dabei. Am technischen Support um Hilfe bitten dauert mir zu lange. Wie immer in solchen Situationen setzt mein gelebter Pragmatismus ein. Bis hierher hat es funktioniert. Es wird auch bis ins Ziel funktionieren. Also einfach weiterfahren und das schlackernde Hinterrad ignorieren. Wird schon!

Abfahrt vom Jaufenpass

Mit diesen Gedanken setze ich die Fahrt bis hoch auf den Jaufen fort. Oben angekommen konzentriere ich mich nur auf die Abfahrt. Ich finde, die Abfahrt vom Jaufen ist die Anspruchsvollste vom gesamten Ötztaler. Sehr kurvig, mittlerweile ist guter Asphalt aufgelegt, doch viele der Kurven sind blind und/oder machen zum Ausgang zu. Man muss sehr konzentriert fahren und über die gefahrene Geschwindigkeit das Risiko kalkulieren. Oben fahre ich noch etwas verhalten, auch wegen meines Hinterrades. Doch mit jedem Meter steigt das Vertrauen und die Geschwindigkeit steigt.
Tatsächlich überhole ich mehr Fahrer als gedacht und werde selbst kaum überholt. Es stellt sich bei der Analyse später heraus, dass ich persönliche Bestzeit auf der Abfahrt gefahren bin. Übrigens genauso wie in der Auffahrt zum Jaufen. Auch dort war ich schneller als sonst.

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Abfahrt Jaufenpass, Foto: Sportograf

Die Abfahrt macht Spaß, ich lasse es laufen und komme frohgemut in St. Leonhard an. 180 KM sind absolviert. Jetzt kommt der Scharfrichter. Das Timmelsjoch. Den ganzen Tag habe ich immer wieder an diesen Anstieg gedacht, der sich wie ein Damokles Schwert über einem schwebend erst am Ende des Tages zeigt.
Hier werden die Karten auf den Tisch gelegt. Hier fängt der Ötztaler erst an. Bislang war alles nur Vorspiel. Jetzt wird’s ernst! Wie werden sich wohl die ersten harten Tritte nach dem Kreisel in St. Leonhard anfühlen? In der Vergangenheit war es jedes Mal so, dass ich oben am Jaufen wirklich gut drauf war und nach der Abfahrt in St. Leonhard, wenn die ersten Tritte in das Timmelsjoch gemacht werden meine Beine quasi in den Ruhemodus gegangen sind und jeder einzelne Tritt ins Pedal nur noch purer Schmerz und Qual waren.

Bikers-High am Scharfrichter

Gespannt fahre ich durch den Kreisel innerhalb einer Gruppe aus vielleicht 10 – 15 Fahrern. Wir schalten und treten an.
Die Steigung ist zu Beginn moderat, kaum vorhanden. Es ist warm. Nicht heiß, aber warm. Angenehm. Ich krempele die Armlinge wieder nach unten und öffne die Windweste. Verdammt, wie schnell fahren wir hier? Denke ich und merke erst jetzt, dass die Gruppe sehr sehr zügig fährt und ich mittendrinn. Was machen die Beine? Sie verrichten ihre Arbeit. So wie sie sollen. Kein Schmerz, keine Qual. Ich checke die Wattwerte. Ok. Läuft. Habe ich mich geirrt? Was ist hier los? Naja ich warte mal ab, was ab Moos passiert. Ab dort wird es eine richtige Steigung und die ersten Serpentinen fangen an.
Bis dort läuft es wie verrückt.

Die Serpentinen beginnen. Es wird steil. Die Geschwindigkeit verlangsamt sich deutlich. Nur nicht einstellig werden denke ich mir. Jetzt spüre ich die Oberschenkel doch recht stark. Die Wattwerte sinken. Aber ich bin weit, sehr weit von den gewohnten Qualen der Vergangenheit entfernt. Es wird steiler. Die Tunnel kommen. Ich fahre. Hier habe ich auch schon pausieren müssen. Ich fahre weiter. Oh hier an dieser Stelle bin ich damals kaum vorwärts gekommen. Ich fahre weiter. Es ist steil. Es kommen weitere Serpentinen. Müsste nicht bald das Flachstück kommen? Es kann nicht mehr weit sein. Plötzlich ist er da. Mit Gewalt drängt sich ein Schmerz in meinen Kopf. Ich ignoriere ihn zunächst. Er ist mir kein Unbekannter.

Gefährlicher Fußbrand, wer kennt ihn nicht?

Ich fahre weiter, spüre aber, dass ich das nicht mehr lange durchhalte. Der Schmerz wird immer stärker, spielt sich gekonnt in den Vordergrund. Was willst Du? Lass mich in Ruhe!! Ich ignoriere ihn. Komm, bis zum Flachstück schaffe ich noch sage ich zu mir. Dort kann ich Druck vom Pedal nehmen und mich bis zur Labe in Schönau retten. Aber es kommt anders. Der Fußbrand schwelt unter meiner linken Sohle in Höhe des Fußballens. Gefühlt kreuzen sich die Zehen im Schuh. Ein Krampfgefühl so schmerzhaft und unerträglich wie das Bohrgeräusch beim Zahnarzt. Ich ärgere mich.
Es ist kein Tritt mehr möglich, der Schmerz wird zu stark. Ich muss anhalten. An einem kleinen Mäuerchen kurz vor dem Flachstück. Ich kann es schon sehen, aber es ist noch so weit, halte ich an, steige ab, lehne mein Bike an die Mauer und setze mich darauf. Ziehe die Schuhe aus und massiere meine Füße. Andere Fahrer und Fahrerinnen fahren an mir vorbei. Alle sehen irgendwie gequält aus. Es ist warm. Ich habe Durst. 2 Minuten massiere ich meine Füße. Ich nutze die Gelegenheit, um meine Weste auszuziehen und hinten in den Trikottaschen zu verstauen, ein.

Und weiter. Welch eine Wohltat. Keine Schmerzen mehr, weg, nicht mehr vorhanden. Ich erreiche das Flachstück und beschleunige voll durch. Überhohle viele Fahrer und erreiche Schönau. Schnell Getränke nachfüllen. GEL! Ich muss Pipi.
Keine Zeit. Ich fahre weiter. Flach. Dann wird es stürmisch. Es bläst ein sehr starker Wind entgegen. Ich motiviere mich. Komm, noch über die Brücke und dann sind es bis zum Tunnel ob nur noch 7,5 KM. So hat es jedenfalls Mathias Nothegger, dessen Videos ich mir vorher zahlreich reingezogen habe, gesagt. Es geht über die Brücke und rein in die Serpentinen. Ich fühle mich gut. Fahre schnell. Eine Serpentine nach der anderen. Die letzte Wasserstelle kommt. Jetzt ist es nicht mehr weit. Es kann nicht mehr weit sein.

Aufgegeben wird bei der Post!

Mitten in einem Hochgefühl voller Freude und Adrenalin erwischt mich Thors Hammer. Mit voller Wucht. Ich habe es nicht kommen sehen. Von jetzt auf gleich gehen ohne Vorwarnung die Lichter aus. Komplett. Ich bin verwirrt. Was ist hier gerade passiert?! Die Beine drehen nicht mehr. Jeder einzelne Pedaltritt ist eine von Schmerzen geprägte Qual. Jede Umdrehung der Kurbel kommt nur noch durch meinen Willen zustande. Der Körper hat abgeschaltet. Verdammt wie weit ist es denn noch? Die Serpentinen nehmen kein Ende. Es wird immer steiler. Dann fängt es auch noch an zu regnen.

Stoisch trümmere ich mit dem wenigen was noch an Kraft da ist auf meine Pedale ein und versuche wenigstens keine Schlangenlinien zu fahren. Da! In der Kehre sitzt ein Fotograf. Gequältes Lächeln fürs Foto. Hält mich da jemand fest. Es geht nicht mehr vorwärts. Verzweifelt versuche ich noch einen Gang zu finden. Vergebens. Hätte ich doch die 34er Kassette nehmen sollen? Blick auf die Wattwerte. Hm. Eigentlich ganz ok. Aber es schmerzt. Es schmerzt so unglaublich und es wäre so einfach. Das ist die Krux beim Radsport. Du kannst den Schmerz abschalten. Sofort. Halt an und steig ab! Der Schmerz ist sofort vorbei. Viele tun dies, schieben am Straßenrand ihr Rad auf klackernden Radschuhen mit unsicherem Gang den Asphalt hoch. Ich nicht. Ich will das nicht. Das bringt mich nicht weiter in Richtung Ziel. Bringt mich vollends aus dem Rhythmus. Ich fahre.

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Auffahrt Timmelsjoch, Foto: Sportograf

Ich will finishen. Die insgeheim gewünschte Zielzeit von 09:59:59 h ist nicht mehr realisierbar. Mir war im Vorfeld klar, dass das schwierig werden würde. Aber zumindest in dem Bereich vom letzten Mal, das sollte doch möglich sein.
Nein. Ist es nicht. Ich bin noch nicht oben und habe bereits eine Fahrzeit von 09:45h. Vom Timmel bis Sölden sind mindestens 35 Minuten. Ich rechne. Hm…oder doch? Während ich mich also mit Mathematik inmitten meiner körperlichen Qualen beschäftige, merke ich nicht, dass ich die letzte Serpentine erreicht habe, Rechts rum und da…huch…da vorne ist doch das Tunnelportal. Überrascht realisiere ich, dass ich so gut wie oben bin. Noch schnell durch den Tunnel, danach noch in leichter Steigung die letzten 1 – 2 Km zur Passhöhe und…nein noch nicht geschafft. Nach dem Tunnel gelingt es mir nicht zu beschleunigen. Obwohl es deutlich flacher wird, die Glückshormone durch den Körper schießen in der Gewissheit es geschafft zu haben, den Ötzi erneut zu finishen, schaffe ich es nicht mehr zu beschleunigen. Zäh mahle ich schwergängig dahin und erreiche die Passhöhe!

Timmelsjoch wie (fast) immer ruppig!

Fahre über die Zeitmessmatte und stelle fest, dass es kalt ist. Sehr kalt. Also Weste wieder rauskramen und anziehen. Armlinge hochkrempeln. Was macht das Hinterrad? Egal. Abfahrt. Einige wenige Serpentinen bergab erwarten mich. Es folgt die lange Gerade bergab, wo früher immer die Speedtrap stand. Geschwindigkeiten von 100km/h sind hier möglich.
Aber nicht heute. Es herrscht enormer Gegenwind. Obwohl ich alles reinlege was ich habe und mich so klein wie möglich auf dem Rad mache, erreiche ich nicht mehr als maximal 65km/h. So stark bläst der Wind entgegen. Es folgt die letzte kleine Steigung zur Mautstation. Nochmal 120 Höhenmeter bei 10 – 12 % Steigung. Ich quetsche alles, wirklich alles raus, was noch da ist. Kurz vor dem Ende der Steigung steht ein älterer Herr und feuert jeden einzelnen an, der an ihm vorbeifährt.

Geschafft. Abfahrt nach Sölden. Die Serpentinen durch Obergurgl und Hochgurgl nehme ich rasant. Sehr rasant wie ich finde. Dann das Flachstück im Gegenwind. Ich trete was das Zeug hält und überhole etliche Fahrer. Noch eine kleine Gegensteigung. Voll drüber und schließlich die letzten Kurven vor Sölden. Die Menge feiert jeden frenetisch. Es ist großartig. Erleichterung macht sich in mir breit.
Ziel.
Grinsen.
In der Analyse stelle ich fest, dass ich das Timmelsjoch in persönlicher Bestzeit hinaufgefahren bin. 6 Minuten schneller als bisher. Trotz Pause und Schwächephase am Ende. Cool. Wann kommt Axel? Was ist mit Ansgar? Das werden sie euch selber berichten.

Fazit:

Der Ötztaler hat wieder einmal geliefert. Eine wirklich einzigartige Veranstaltung. An einem Tag über 4 Berge durch zwei Länder zu fahren ist großartig. Jeder Teilnehmer erlebt seine eigene Geschichte. Meine habe ich euch nun erzählt. Ich hoffe ihr hattet Spaß beim Lesen und schöpft vielleicht Motivation es auch einmal zu versuchen. Aber ich warne Euch. Es wird nicht bei einer Teilnahme bleiben. Den Ötztaler fährt man niemals, oder immer wieder. Wenn er Euch in seinen Bann zieht, habt ihr gewonnen.
Abschließend kann ich euch sagen, dass ich ca. 15 Gels zu mir genommen habe und etwa 6 Liter Getränke verzehrt habe.
Das Hinterrad hat überlebt. Ich konnte das Lagerspiel wieder justieren und es läuft als sei nichts gewesen.
Meine Zielzeit: 10:45 h.
Ich bin zufrieden.

T-Racer

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