Jetzt stehe ich hier Sonntags um 5:15 Uhr in Sölden auf der Hauptstraße an der BP Tankstelle 100 Meter vor der Startlinie beim First Date mit dem Ötztaler Radmarathon. Einzig vertraute Person in einer riesigen Menschenmenge ist meine liebe Frau hinter dem Absperrgitter. Und Menschen sind auch das, was mich in den nächsten 5 Stunden am meisten stören wird. Danach wird es besser. Alles andere ist Erlebnis pur! Viele Dinge werden so eintreten wie mir prophezeit wurde, aber viele Dinge werden auch so funktionieren, wie geplant. Ein Ziel immer im Fokus: meine Radklamotten-Leidenschaft mit dem Finisher-Trikot zu befriedigen. Dort hin ist es ein langer Weg. Wird es Liebe oder wird es das First Date des Grauens?

Menschen und Rennräder! Überall! Schon auf dem frühen Weg um 5 Uhr zur Startaufstellung begegnen meiner Frau und mir nur Spiegelbilder. Rennradfahrer mit Fahrerfrauen, leider viel zu selten Rennradfahrerinnen. Vorbei am Zielbogen, dem ersten Startblock und an den noch schlaff auf der Wiese liegenden Werbe-Heißluftballons, ergattere ich einen Platz sehr weit vorne in der Startaufstellung. Der erste Haken in der Ötztaler ToDo-Liste kann gesetzt werden.

Es ist eine scheinbar entspannte Stimmmung in der Startaufstellung. Die üblichen Scherze werden gemacht, ansonsten wird noch Mal alles gecheckt und wir harren der Dinge die da kommen. Ich fühle mich gut vorbereitet, sowohl körperlich als auch mental. Viele Informationen von allen Seiten habe ich verarbeitet, vor allem von den Vereinskollegen Thomas und Axel, die schon hier gestanden haben. Unzählige Male bin ich das Höhenprofil durchgegangen und habe mir eine Strategie zurecht gelegt. Der Alarm des Garmin für die Nahrungsaufnahme ist eingestellt und die Klamottenwahl dem voraus gesagten Wetter angepasst. Selten war ich so entspannt vor einem Startschuss. Meine Frau gibt mir die nötige mentale Unterstützung. Die Heißluftballons leuchten im Takt der Gasbrenner und die Morgendämmerung taucht das Ötztal in ein sanftes Tageslicht. Zeit aufzubrechen!

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Na, wo bin ich?

Entspanntes Rollen bis Ötz

Nach dem Startschuß aus der traditionellen Kanone wird der Startblock mit den Promis und Leistungsträgern auf den Weg geschickt. Kurze Zeit später setzt sich der Rest des Feldes inklusive mir in Bewegung. „Ich erwarte Dich gegen 17 Uhr zurück!“ sagt meine Frau noch! „Ja, ja, wir essen zeitig!“ erwiedere ich mit einem verschmitzten Lächeln. 10 Stunden wird nicht klappen, denke ich mir, rechne mal lieber mit 19 Uhr. Die ersten Meter rollt das Feld entspannt durch das noch verschlafene Sölden. Am Ortsausgang orientiere ich mich, wie mein Umfeld so gruppenfahrtechnisch aufgestellt ist und stellte fest, dass es dynamisch fliesst.

An der ersten Verkehrsinsel am Ortseingang von Längenfeld saß schon der erste Fahrer mit blutiger Nase auf dem Boden. Das sorgte dafür dass ich noch konzentrierter fuhr. Immer die angepeilten Wattwerte für das erste Teilstück bis Ötz im Blick, pedalierte ich locker im Feld. Kurze Zeit später überholt mich relativ locker Axel und zieht mit einem Gruß von Dannen. Ihn werde ich erst im Ziel wieder sehen. Auch Thomas zieht an mir vorbei, allerdings schnappe ich ihn mir in der nächsten Abfahrt wieder. Die Klamottenwahl ist zu diesem Zeitpunkt perfekt! Etwas dickeres Baselayer, Trikot darüber, Armlinge und Beinlinge, Windweste und eine leichte Regenjacke als Abschluß. Nicht zu warm nicht zu kalt. Wieder ein Haken in der ToDo-Liste!

Bis Ötz rollen wir hauptsächlich bergab mit ein paar leichten Erhebungen, durch verschiedene Ortschaften. Alles läuft reibungslos ab an den Verkehrsinseln und Kreisverkehren. Die Verpflegung wird von mir Minuten genau eingehalten, Wattwerte werden selten überschritten, alles läuft Bestens. Kurz vor Ötz bereite ich mich auf den Stau vor, den Thomas angekündigt hatte. Da es nach einem Kreisverkehr im Ort direkt rechts hoch Richtung Kühtai geht, hält dort jeder an, um sich zu entkleiden. Als ich dort ankomme, sind alle diszipliniert an den Rand gefahren und die Hauptspur durch den Kreisverkehr ist frei. Ich halte 300m nach dem Kreisverkehr an, um mich für den Aufstieg zum Kühtai einiger Klamotten zu entledigen, als Thomas mich überholt und freundlich grüßend im Anstieg verschwindet. Auch ihn werde ich erst wieder im Ziel sehen.

Auf zum Kühtai – nicht ganz nach Plan

Regenjacke und Armlinge zog ich am Fuße der Auffahrt zum Kühtai aus. Die Windweste ließ ich vorsichtshalber an und die Beinlinge wickelte ich nur runter bis auf die Schuhe, da in den Trikottaschen eh schon wenig Platz war. An den Fesseln störten sie am wenigsten. Letztes Jahr bin ich mit dem Auto von Ötz zum Kühtai gefahren, deshalb wusste ich, dass es nach dem Kreisverkehr direkt aufs Maul gibt. Die ersten Meter nach der Pause fühlten sich gut an, aber mir wurde relativ schnell bewusst, dass ich die geplanten Wattwerte für längere Zeit überschreiten werde. Hätte ich mal doch eine Kassette mit 34er Ritzel montiert. Aber es nutzt ja nichts: der Berg wird immer zu Ende gefahren, so will es die Vereinssatzung.

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Menschen!

Die Auffahrt zum Kühtai ist sehr unrhythmisch, es geht mal etwas weniger steil, dann aber wieder steiler, dafür aber konstant hoch. Abwechslung durch schöne Ausblicke hat man nicht, da die Strecke zum größten Teil durch Wald führt. Dafür sorgen die hunderte Radfahrer, die um einen herum fahren für Kurzweiligkeit. Irgendwer reißt immer einen blöden Spruch. Und wenn es dann doch mal ruhig ist, habe ich mir die Räder der anderen Mitstreiter angeschaut. Da die Spitzengruppe auch noch in Hörweite ist, kreiste auch immer der Helikopter über uns. Schön, diese ruhige Waldathmosphäre!

Endlich war dann auch die Staumauer unterhalb der Passhöhe zu sehen, aber ich wusste, dass noch ein/zwei Stiche zu bewältigen sind. Aber die Beine fühlten sich gut an. An der Verpflegungsstation auf der Kühtai Passhöhe herrschte absolute Hektik! Für alle schien es um Sekunden zu gehen. Davon ließ ich micht nicht anstecken, ich füllte meine Flaschen auf und aß genüsslich einen Riegel, während ich das hektische Treiben beobachtete. Dann machte ich mich an die Abfahrt. Man hatte uns vor den Kuhgittern gewarnt, die hier alle paar hundert Meter vor und nach den Galerien eingebaut waren. Aber wenn ich ehrlich bin war der Bremsvorgang den ich vor den Gittern machte nur proforma, denn ob ich jetzt mit 85km/h oder mit 75 km/h darüber fuhr, macht vermutlich keinen großen Unterschied. Ansonsten hieß es: Bremse auf und laufen lassen. Eine relativ langweilige Abfahrt, viel geradeaus und wenig Kurven.

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Abfahrt vom Kühtai

Über die Umleitung Richtung Brenner

Die erste Umleitung führte uns von der ursprünglichen Strecke scharf rechts in einen kurzen Anstieg. Nichts wildes, eine schöne Abwechslung nach der langen Abfahrt, bevor es Richtung Innsbruck ging. Nach dem Anstieg ging es immer leicht bergab zum Ortseingang von Innsbruck. Das Feld hatte sich mittlerweile beruhig und alle pedalierten entspannt über den Seitenweg. Jeder war sich scheinbar bewusst, was uns noch erwartet.

Der Plan für die Strecke zwischen Innsbruck und Brenner-Pass sah Leistung im mittleren Bereich treten vor und immer schön schauen, dass eine Gruppe die Arbeit verrichtete. Das funktionierte tatsächlich ganz hervorragend. Es fand sich immer jemand, der vorausfuhr und wenn ich über mein Limit fuhr, ließ ich mich in die nächste Gruppe fallen. Zeitweise ging ich aber auch in die Führung, denn ständiges Hinterrad lutschen, ohne selbst mal zu investieren, zeugt von wenig Anstand. Die relativ eintönige Strecke Richtung Brenner empfinde ich im Nachhinein betrachtet als notwendiges Übel. Einzig der Blick über Innsbruck war ein Highlight auf diesem Teilstück.

Ich fühlte mich richtig gut, die Beine drehten sich ganz locker und die Nahrungsaufnhame klappte ganz hervorragend. Um mich herum waren größtenteils die gleichen Fahrer auf der Strecke und wir wechselten uns mit der Führungsarbeit gut ab. In Gries am Brenner fing der Schlussanstieg zum Brenner-Pass an und viele der Fahrer ließen sich zurück fallen. Ich war irgendwann vorne und hatte zwei Anhängsel am Hinterrad. Auf meine Aufforderung auch mal noch zu vorne zu fahren, hörte ich nur stöhnen und irgendwas mit „am Limit“.

Auf den letzten Kilometern zum Ort Brenner hat man einen schönen Blick auf die letzten Höhenmeter bis zur Passhöhe und die Autobahnbrücke. Und man hört die Stimmung, die die privaten Verpfleger dort machen. Zur offiziellen Verpflegung ging es kurz durch den Ort und es war toll, wie viele Menschen dort applaudierten und anfeuerten. An der Verpflegungsstelle herrschte wieder hektische Betriebsamkeit. Ich füllte meine Flaschen und setzte mich auf eine Bank etwas abseits, um wieder das Treiben zu beobachten und dabei einen Riegel zu essen. Nach kurzer Zeit fuhr ich wieder los und freute mich auf den Jaufenpass! Alles war Bestens!

Der Jaufenpass – hoch und runter ein Genuss

Die Abfahrt von Brenner bis Sterzing ist breit und man konnte gut rollen lassen. In Sterzing ging es auf die letzte Umleitung. Man biegt rechts ab und schaut vor eine Wand. Da ging es kurzfristig so steil hoch, dass ich in den Wiegetritt auf dem größten Ritzel musste. Aber auch dieser kurze Stich war eine willkommene Abwechslung und setzte noch Mal einen guten Reiz für die Beine, bevor es in das stupide Pedalieren den Jaufenpass hoch ging.

Und dann ging es auch schon los. Beinlinge runter gewickelt, Armlinge weggepackt und Windweste aufgemacht. Der Jaufenpass ist jetzt schon mein Lieblingspass beim Ötztaler Marathon. Das mag damit zusammenhängen, dass ich die Nervosität vom Kühtai abgelegt hatte und die Strapazen vom Timmelsjoch in Erinnerung habe. Der Jaufenpass liegt mir, da er mit einer nahezu konstanten Steigung zur Passhöhe führt. Am Anfang kann man immer noch durch Baumlücken ins Tal hinab schauen und ich wundere mich immer wieder, wie schnell man doch an Höhe gewinnt. Mir ist aufgefallen, dass ich sich meine Rennsituation verändert hatte. War ich bis hier hin viel überholten worden, konnte ich jetzt mit konstanter Fahrt in meinem Wattbereich einige Fahrer überholen. Auch das sorgte natürlich für ein positives Gefühl.

Ungefähr auf der Hälfte fing es an zu regnen. Auch nicht gerade wenig, so dass die angelegte leichte Regenjacke schnell durchnässt war. Aber der Regen war tatsächlich nicht weiter tragisch. Nach 20 Minuten war auch schon wieder Schluß. Regenjacke wieder verstaut und relativ schnell wurde ich wieder halbwegs trocken. Irgendwann erreicht man die Baumgrenze und hat den Blick auf die letzten Kilometer bis zur Passhöhe. Kurz darunter liegt die nächste Verpflegungsstelle. Dort hatte ich auch meinen Kleiderbeutel hinliefern lassen. Die letzten zwei Kehren biss ich noch Mal die Zähne zusammen. Ich holte erst Mal meinen Beutel, um mir ein trockenes Unterhemd anzuziehen und meine Sachen zu sortieren. Die nasse Regenjacke tauschte ich gegen die trockene, etwas dickere Regenjacke und füllt meine Gels auf. Dann das übliche Prozedere, Flaschen auffüllen, Riegel futtern und zur Abwechslung gönnte ich mir einen Becher mit heißer Brühe und Nudeln. Eine Wohltat!

Die Abfahrt, was ein Spaß!

Zur Passhöhe Jaufenpass waren es noch zwei Kehren. Als ich wieder aufs Rad stiegt, fühlten sich meine Beine dann doch etwas schwerer an. Kein Wunder nach 160 Kilometern. Aber die Aussicht belohnte für alles! Man konnte in das Tal hinunter nach St. Leonard und bis fast nach Meran schauen und das bei bestem Wetter. Denn Moment, das zu genießen nahm ich mir. Nachdem ich die Beinlinge wieder hochgekrempelt, die Armlinge wieder an gezogen hatte und die Windweste zu war, begab ich mich auf die Abfahrt. Und die hat richtig Spaß gemacht, ich hatte von oben bis unten ein Grinsen im Gesicht. Die Abfahrt ist durch die vielen Kehren, die teilweise auch zum Ende zu machten, eine Herausforgerung. Aber ich liebe das und ich hab einige Fahrer überholt und wurde kein einziges Mal überholt.

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Irgendwann merkte ich, wie warm es langsam wurde. Auf dem letzten Stück hing ein Fahrer die ganze Zeit mit etwas Abstand hinter mir, er war genauso schnell und als wir nach St. Leonard rein fuhren, fuhr er neben mich und wir gaben uns grinsend ein High-Five. Mega! Adrenalin pur und richtig gute Motivation. Kurz bevor es in die Auffahrt zum Timmelsjoch ging, hielten alle am Straßenrand an. Es waren gefühlt 30 Grad und tatsächlich hat mein Garmin 35 Grad aufgezeichnet. Also wieder der Klamotten entledigen. Da ich in der Abfahrtssause keine Zeit hatte etwas zu essen, nahm ich mir eine gute Portion Power-Gums und reichlich Flüssigkeit. Und dann fing der Ötztaler Radmarathon richtig an!

Verdammt! Es wird zäh!

Alle, wirklich alle, die das Timmelsjoch kennen, haben gesagt, dass sich hier alles entscheidet. Es ist der Scharfrichter! Deshalb bin ich die ersten Kilometer locker angegangen. Aber irgendwas hatte sich verändert. Vom Gefühl her konnte ich die Leistung nicht mehr treten. Ich versuchte mich abzulenken und schaute mir die Umgebung an. Aber es wurde nicht besser. Nach 6 Kilometern blieb ich das erste Mal in einer Kurve stehen. Das erste Mal von vielen Malen! Ich nutzte die Pause, um mich zu erleichtern. Mit mir standen ein weiterer Fahrer und ein einheimischer Rennradfahrer in der Kurve. Den älteren Herrn schätzte ich auf 70 bis 80 Jahre. Er machte uns Hoffnung mit den Worten „jetzt gehts noch Mal kurz steil hoch und dann wirds etwas flacher und dann wirds ganz flach bis zur Labestation (Verpflegungsstation), bald habt Ihr es geschafft! Dann müsst Ihr nur noch das Timmelsjoch hoch!“ Die nächsten Kilometer würden mir zeigen, dass ein Einheimscher grundsätzlich ein anderes Verständins von „flach“ hat, als ein Flachland-Tiroler, der, wie ich, im holländischen Grenzgebiet wohnt.

Nach der Pause pedalierte ich weiter Richtung Moos und erwartete die angekündigte Reduzierung der Steigung. Um so enttäuschter war ich, als sich über dem Ort Moos auf einmal mehrere Kehren zeigten, die sich gefühlt auf 500 Höhenmeter verteilten. Nach der zweiten Kehre kam die Wasserstation wie gerufen, um wieder anzuhalten. Neben Wasser gab es auch Cola. Cola hat mir schon öfter den Arsch gerettet. Allerdings Coca Cola, hier gab es leider Red Bull Cola. Und Red Bull Cola scheint nicht so zu funktionieren, wie das Original. Verfluchter neumodischer Organics-Kram! Jedenfalls blieb der erwartete Boost aus. Ich habe auf den nächsten 4 Kilometern noch zwei Mal angehalten und Erholung gesucht. Auch zugeführte Gels und der für diese Momente aufgehobene „Angstriegel“ änderten die Gefahrenlage nicht. Weitere 2 Kilometer quälte ich mich den Berg hoch, immer wieder setzte ich einen Punkt, bis zu dem ich durchhalten wollte. Mal ein Schild, mal ein Baum und dann ein Tunnel, bei dem ich das Ende als nächstes Ziel setzte.

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Schieben ist eine Option

Am Ende des Tunnels musste ich erneut anhalten. Vorher hatte ich einen schiebenden Gefährten passiert, der sich Mut zusprach: “ Einfach mal ein Stück schieben, um eine andere Bewegung in die Beine zu bekommen!“ Gute Idee und willkommene Ausrede nicht weiterfahren zu müssen. So schob ich auch ein paar Meter bis zum nächsten Tunnel. Erneut erleichterte ich mich und versuchte die Umgebung als Ablenkung zu nutzen. Die schöne Landschaft gab mir wieder etwas Energie und ich schaffte es tatsächlich ohne erneute Pause bis zur letzten Verpflegungsstation!

Der Endgegner!

Das Treiben an der letzten Verpflegungsstation war der krasse Gegensatz zur ersten Verpflegung am Kühtai. Die Fahrer waren alle ruhig und gelassen, es herrschte keine Hektik mehr. Jeder war sich bewusst darüber, was jetzt noch kommen würde. Es war aber leider auch unübersehbar. Richtete man den Blick in Richtung Berg, sah man die Passstraße vom Timmelsjoch in den Fels gehauen, jede Kehre tat schon bei hinsehen in den Beinen weh. Trotz dass die Cola scheinbar nicht wirkte, gönnte ich mir einen Becher. Über einen Angstriegel hätte ich mich gefreut , aber von meinen gewohnten Riegeln hatte ich keinen mehr und Experimente mit einer anderen Marke wollte ich jetzt nicht vornehmen. Deshalb nahm ich noch eine Brühe mit Nudeln. Dann ging ich die letzte große Herausforderung an.

Im Nachhinein betrachtet ist das Timmelsjoch mit seinen Kehren ab der kleinen Brücke ein toller Anstieg! Man spürt förmlich die felsige Landschaft und jede Kehre bietet einen neuen Blick auf die großartige Bergwelt. Nicht wenn man 190 Kilometer mit 4500 Höhenmetern in den Beinen hat. Und diese Entfernung auch im Kopf hat! Dazu später mehr. Jetzt war es pure Quälerei, jedenfalls fühlte es sich so an. Es fühlte sich so schwer an, den Berg hoch zu fahren, schwerer als sonst. Auf den letzten 7 Kilometern bis zur Passhöhe habe ich NEUN Mal angehalten! Neun! Für mich in der Nachbetrachtung unfassbar. Aber in dieser Situation war es vom Gefühl her nicht anders möglich. Das Schlimmste aber war, dass ich die Zeit nicht genießen konnte. Ich hatte mich auf die Kehren, die mit alten Trikots geschmückt sind gefreut. Und jetzt hatte ich keinen Sinn dafür.

Aufgeben war übrigens nie eine Option! Niemals! Aufgegeben wird bei der Post, wie meine Kollegen vom Podcast Schweiß und Pommes so schön zu sagen pflegen. Ich kann mich bis heute an fast jeden Kilometer des letzten Teils des Timmelsjoch erinnern und spüre förmlich die Erschöpfung. Und ich spüre auch heute noch die Erleichterung, als ich die Bässe des Party-Mobils am Eingang des Tunnels höre und weiß, dass es bald geschafft ist. Als ich dann am Eingang des Tunnels stehe, der das Ende der Qualen markiert, fühle ich nichts! Keine Erleichterung, keine Erschöpfung, keine Freude, einfach nichts. Ich funktioniere nur noch. Es ist kalt geworden und ich rüste mich für die letzte Abfahrt. Beinlinge, Armlinge, Windweste und Regenjacke drüber. Ich ziehe alles an was ich habe. Ich fahre in den Tunnel. Es ist Licht am Ende des Tunnels!

Letzte Ausfahrt Sölden

Am Ende des Tunnels wird es ruppig. Das Wetter auf der anderen Seite ds Timmelsjoch hat immer eine Überraschung parat, auch davon hatten mir viele berichtet. Gegenwind, Kälte und Felsenlandschaft, ein unwirtlicher Ort. Die Straße führt fast eben bis zur Passhöhe. In der Ferne sieht man Wolken über den Kamm ziehen. So ähnlich muss sich Frodo im Gebirge auf dem Weg zum Schicksalsberg gefühlt haben. Trotzdem kann ich meine Wattwerte wieder treten, wenigstens etwas Positives. Die unwirtliche, felsige Landschaft hält auch nach der Passhöhe noch an. In der Abfahrt verkrampfen meine Finger an den Bremshebeln, der Wind bläst mir kalt ins Gesicht. Wenigstens regnet oder schneit es nicht. Endlos zieht sich die Grade und ich friere.

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Hinter der nächsten Kurve erwartet mich der letzte erwähnenswerte Anstieg zur Mautstation hoch. Ein letztes Mal bleibe ich stehen. Noch einmal Kräfte sammeln. Dann ist es fast geschafft. Nach kurzer Standzeit schwinge ich mich wieder aufs Rad und kurbel zur Mautstation hoch. Danach geht es lange bergab. Gefühlschaos! Mir schießen Tränen in die Augen und ich muss bremsen, weil ich nix mehr sehe. Glücklicherweise geht es geradeaus. Ich habe es geschafft! Erleichterung und Stolz machen sich breit, die Anspannung fällt ab und ich rolle die letzten Kehren hinab ins Tal. In Obergurgl stehen Menschen und jubeln mir zu. Die letzten Kilometer bergab und flach kann ich ganz locker pedalieren, meine Beine fühlen sich nicht nach 12 Stunden auf dem Rad an, sondern eher wie nach einer harten Trainingseinheit.

Ich fahre nach Sölden rein und die Menschen am Straßenrand applaudieren. Vor 12 Stunden und 40 Minuten bin ich hier gestartet und hier endet es jetzt. Ich biege auf die Brücke ab und sehe rechts am Zielbogen meine Crew stehen! Meine liebe Frau Carmen, Dominik, Christina und Axel jubeln mir zu. Dominik und Christina haben Schilder gebastelt. Ich freue mich riesig! Im Gewusel des Zielbereichs treffe ich noch Thomas und wir gratulieren uns gegenseitig. Dann falle ich meiner Frau in die Arme. Bestes Gefühl! Ich muss mich setzen. Jetzt schlägt die Erschöpfung voll durch. Christina versucht verzweifelt mir Cola zu besorgen, Coca Cola versteht sich, wird aber nicht fündig. Essen kann ich jetzt gar nichts und auch das Finisher Trikot werde ich mir morgen erst abholen. Die Erschöpfung übernimmt Überhand und ich bin froh, als wir uns auf den Weg zur Unterkunft machen. Nach einer heißen Dusche liege ich im Bett und falle binnen Minuten in einen tiefen, traumlosen Schlaf! Ich bin Finisher des Ötztaler Radmarathons! Nach 12 Stunden und 44 Minuten habe ich 232 Kilometer und 5500 Höhenmeter, verteilt auf 4 Alpenpässe absolviert.

Und es ist Liebe!

Im Ziel habe ich direkt gesagt: „Sowas mache ich nie wieder! Ich setze mich nie wieder so lange aufs Rennrad!“ Nach drei Tagen habe ich angefangen zu analysieren. Nach sechs Tagen wusste ich, was ich besser machen kann. Nach acht Tagen spielte ich mit dem Gedanken, es noch Mal zu versuchen. Nach 10 Tagen habe ich geschaut, ob man sich schon anmelden kann! Das first Date mit dem Ötztaler Radmarathon lief über weite Strecken ganz hervorragend und wurde zum Ende hin ganz furchtbar. Aber es wird ein weiteres Treffen geben. Zu schön war das Erlebnis mit so vielen Menschen Rad zu fahren (ich glaube gerade nicht, dass ich das schreibe!) und die Bergwelt vom Rad aus zu genießen. Thomas sagte es mehrfach schon vorher: „Du wirst wieder kommen!“ Und so wird es sein!

Ich habe meine Pläne die Nahrungsaufnahme und Leistungswerte betreffend sehr gut einhalten können. Deshalb lief es auch bis zum Timmelsjoch fast ohne Probleme. Als Erstes werde ich beim nächsten Mal die Übersetzung ändern und als größtes Ritzel ein 34er montieren. Ich hoffe damit die Wattwerte am Kühtai besser steuern zu können und am Timmlesjoch eine höhere Trittfrequenz fahren zu können. Die Nahrungsaufnahme werde ich auch noch weiter optimieren, zum Ende hin benötige ich schnell verfügbare Energie, die ich erstens vertrage und die ihre Wirkung nicht verfehlt.

Die größte Baustelle ist aber meine mentale Leistungsfähigkeit. Die Analyse hat gezeigt, dass ich nie einen Leistungseinbruch hatte. Mir fehlt die Fähigkeit zu leiden. Der Kopf sagt „Nee steig jetzt lieber ab, es wird zu schwer“ anstatt „Einfach weiter treten, es geht, mach weiter, Du schaffst das!“ Ich kann mich sehr genau an die Situationen erinnern, als ich diese „Tiefs“ hatte und weiß noch genau, wie es sich angefühlt hat. Diese Gefühle kann ich wieder abrufen und beim nächsten Mal weiß ich, wie ich zu reagieren habe. Wie es viele vorausgesagt haben, war das Timmelsjoch der Scharfrichter. Hier habe ich mir eine gute Zeit versaut. Das wird beim nächsten Ötztaler Radmarathon nicht passieren.

Übrigens war mein Rad technisch perfekt vorbereitet und hat die ganze Zeit ohne Probleme funktioniert. Bleibt, wie immer am Ende, noch „Danke!“ zu sagen. Als allererstes natürlich meiner Frau Carmen, die das ganze Wochenende dabei war und mich begleitet und untertstützt hat. Das hat vieles einfacher gemacht und ist auf jedenfall Teil des Erfolgs. Danke auch an Christina und Dominik, die ihren ersten Urlaubstag geopfert haben, um mich jubelnd mit Schild im Ziel zu empfangen. Vielen Dank an Thomas und Axel, die ihre Erfahrungen mit mir geteilt haben. Und natürlich vielen Dank an das ganze Ötztaler Radmarathon-Team und die vielen Helfer. Es war alles von Freitag bis Montag perfekt geplant und organisiert. Die Strecke war perfekt abgesichert und an den Verpflegungsstationen waren alle hilfsbereit und freundlich. Wir sehen uns mit Sicherheit wieder!

Natürlich bin ich jetzt in Besitz eines Ötztaler Radmarathon Finisher Outfits!

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